In den Katakomben des Hauptbahnhofs

 

Frankfurter Hauptbahnhof

Frankfurter Hauptbahnhof

 

Der folgende Artikel wurde im Jahr 2004 bei der Frankfurter Rundschau veröffentlicht.  Verfaßt wurde der Artikel von Peter Rutkowsky. Ich bin der Meinung der Artikel ist lesenswert und deshalb veröffentliche ich ihn nochmals hier an dieser Stelle.

 

VON PETER RUTKOWSKI

Zitat

Das Postamt am Hauptbahnhof

Der erste Tag des Bahnhofspostamtes war auch der erste Tag des Hauptbahnhofs: 18. August 1888. Zu diesem Postamt 9 gehörten rund um einen offenen Hof neben dem imposanten Hauptgebäude, das auch heute noch an der Poststraße 20 steht, eine Wagenhalle, ein Stall und die sogenannte Packkammer. In unmittelbarer Nachbarschaft entstand die Rudolfschule, die in den Nachkriegsjahren allerdings als Zweigstelle der Frankfurter Vollzugsantstalt genutzt wurde. 1958 wurde dann die Haftanstalt Preungesheim eröffnet und die Bahnhofspost übernahm das Gebäude, um ihrer Raumnot Herr zu werden. Im ersten Arbeitsjahr des Postamtes wurden im Tagesdurchschnitt 5300 Briefe dort bearbeitet. Heute werden im Briefzentrum im hinteren Gutleut täglich vier Millionen Sendungen umgeschlagen.rut

Durch den schmalen Schlitz fällt Tageslicht. Endlich. Schon eine Stunde sind Hans Heilmann und Volker Mischler unterwegs: Im Halbdunkel fahler alter Neonröhren, die die Wände um sie kaum zu erhellen vermögen. Mit dem Tageslicht kommt aber auch das Dröhnen. Ein Blick auf die Uhr: 14.26 Uhr. Ein Schild zeigt an: Gleis 5/6. Müsste der 14.19 Uhr nach Wien sein, der da ausfährt. Mit der üblichen leichten Verspätung. Das Zuggeräusch ist ganz nah an den Köpfen der beiden Männer. Nur eine Betonplatte entfernt. Heilmann und Mischler stehen in einem Ventilationsraum der Frankfurter “Post-Katakomben”. Der geht vom Haupttunnel ab, der von Nord nach Süd den gesamten Hauptbahnhof unterkreuzt. Alle paar Meter gibt es Lücken in den striemigen Betonwänden – schon seit langem zugemauerte Zugänge zu Lastenaufzügen, zu Räumen, an deren Bedeutung sich keiner mehr erinnert, auch zu den Ventilationsräumen. Hier wurde Jahrzehnte lang die Post von und für Frankfurt transportiert. Vom Postamt 9 in der Poststraße 20 gegenüber der Nordseite des Bahnhofs zu den Gepäckwagen und in die Stadt.

Heute stehen die “Katakomben”, wie sie die Postler ironisch getauft haben, leer. Der Alltag im Hauptbahnhof läuft über ihnen hinweg. Kein Reisender oder Bahnbediensteter, der die kleinen, zu Dellen gelaufenen quadratischen Gitter im Boden beachtet, geschweige denn weiß, was sich darunter verbirgt. Volker Mischler weiß das ganz genau. Als Hausverwalter des ehemaligen Postamts 4, heute Sitz einiger Verwaltungseinheiten, der “Großannahme” und einer Reihe Postfächer, muss er das auch. Auch Hans Heilmann, Ortsvosteher des Ersten Bezirks, in dem der Hauptbahnhof liegt, kennt die “Katakomben” aus dem Effeff.

Heilmann ist Postler, seit den 50er Jahren, einer mit Leib und Seele. Als junger Mann aus der Provinz kam er in die pulsierende Großstadt Frankfurt, arbeitete in der Bahnhofspost, wohnte wie viele andere im Postler-Wohnheim an der Münchener Straße. “Nach der Schicht saßen wir spätnachts dann in einer Kneipe und die Prostituierten gaben uns Bier aus”, erzählt Heilmann. Die Frauen verdienten damals erheblich mehr als die Männer von der Post. Geschlafen haben sie im Post-Wohnheim Münchener Straße, waschen konnten sich Heilmann und Kollegen in der “Schlunz”. Die ist die erste Station auf dem Weg in den Untergrund. Merkwürdig niedrige Räume mit Waschgelegenheiten und Spinden zum Umziehen.

Brief- und Paketverkehr untertage war eine dreckige Angelegenheit. Heilmann grinst und blickt zur Decke der “Schlunz”: “Wer größer war als 1,75 Meter, hatte echte Probleme.” In der “Schlunz” konnten die Postler auch mal auf einen Kaffee und eine Kippe bleiben, ein bisschen reden. Etwas mehr Menschlichkeit versuchten sie auch in die “Katakomben” zu zwingen. Ihre Versuche sind teilweise noch erhalten. Am Ende eines schmalen Ganges öffnet sich eine Tür zu einem Büro, dessen Wände mit lackierten Holzlamellen verkleidet sind. In einem Nebenraum hat ein Postler den Römerberg an eine Wand gemalt. Und weil er anschließend das Wandbild mit Lack bearbeitete, hat es sich bis heute erhalten. So wie die beiden Tresore in einem anderen Raum. Massive, mehr als mannshohe grüne Metallkästen, deren Schlüssel man schon lange verloren habe, “genauso wie die Lagepläne der Katakomben”. “In den Tresoren wurden teilweise bis zu 500 Millionen Mark in Briefmarken gelagert”, erinnert sich Mischler. Ob da jetzt noch was drin sei, weiß der Hausverwalter nicht. Interessiert auch keinen mehr. “Die Dinger sind so schwer. Die bewegt niemand mehr weg.”

Tote bei Bombenangriffen

Und auch den Gestank wird niemand mehr wegbekommen. An der Decke der ehemaligen Werkstatt für die kleinen Schlepper, die durch die “Katakomben” fuhren, hängen noch Kranleisten, der nackte Betonboden ist ein Mosaik aus dunkelgrauen bis schwarzen Flecken. Hier wurde ihr Motoröl ausgewechselt. Und so einige Hektoliter sind wohl durch den Beton gesickert. Der prägnante Geruch ist geblieben. Genauso wie in einer Bucht an der Hauptachse der “Katakomben”, die Heilmann als ehemalige Waschstelle identifiziert. Auch hier die eindeutigen Flecken und Verfärbungen.

Eine ganze Flotte von Schlepperzügen unterhielt die Post untertage. Die Fahrer nahmen an der “Beutelumladebühne” die prall gefüllten groben Leinensäcke der Bundespost auf, die über die “Rutsche” in die “Katakomben” gelangten. Geschnürt hatten sie Postbeamte im bedeutend sonnigeren vierten Stock des Postamtes obendrüber. Dann heizten die Schlepperzüge durch die “Katakomben” zum designierten Lastenaufzug, der die Postsäcke an die Oberfläche brachte, auf die schmalen niedrigen Zwischengleise, von denen aus die Gepäckwagen beladen wurden. Reisende wollte man mit dieser Schwerstarbeit nicht konfrontieren.

Dass “Heizen” das richtige Wort ist, davon zeugen zahlreiche Warntafeln in den Katakomben und die unzähligen Schlieren und Risse an den Wänden. Und Geschichten, wie die des Postlers, der im Lastenaufzug mal mitfuhr und wegen einer Fehlfunktion zerquetscht wurde. “Das musste immer schnell gehen. Besonders wenn die Druckereien die Zeitungspakete brachten”, berichtet Heilmann. Manchmal war es zu schnell.

Gestorben wurde in den “Katakomben” nicht nur wegen allzu laxer Arbeitsmoral. Beim Großangriff alliierter Bomber am 12. September 1944 erhielt der Bahnsteig 7/8 einen Volltreffer. Die Trümmer drückten die darunter liegenden “Katakomben” ein, neun Postbedienstete, die dort Schutz gesucht hatten, starben. Mehrere andere Räume wurden ebenfalls beschädigt, erst 1957 restaurierte man sie wieder. Am alten Postamt erinnerte eine aufwändig gestaltete Steintafel an die im Ersten Weltkrieg an der Front gefallenen Postler. Für die Toten des Zweiten Weltkrieges wurde Gleiches nicht gestaltet. Viele von ihnen waren Kriegsgefangene, Zwangs- und “Fremdarbeiter”, die die Deutschen mit dem Versprechen gelockt hatten, ihre Kriegsgefangenen würden dafür entlassen. Sie ersetzten deutsche Postler, die an die Front geschickt wurden.

Nach Kriegsende gab es weder Bahn- noch Postverkehr. In den “Katakomben” wurde aber weiter gearbeitet. Illegal. Eine Geschichte der Frankfurter Polizei berichtet, Schwarzmarkthändler hätten die Räume genutzt. Im Bahnhofsviertel blühte der illegale Handel mit Überlebensnotwendigem. Die Könige des Marktes aber organisierten den Tauschhandel in großem Stil: Im ehemaligen Zwangsarbeiterlager Zeilsheim, wo dessen vormalige Insassen und andere Entwurzelte auf ihre Repatriierung warteten, kamen Schwarzmarktgüter en gros an. Mit Nahverkehrszügen schafften man die Waren nach Frankfurt und bunkerte sie in den “Katakomben”.

Kerzen als Lichtquelle

Bahn und Post führten damals einen derartigen Mangelbetrieb, dass oft nur Kerzen die Arbeitsstellen erleuchteten, allein ein paar neuralgische Punkte erhielten die selten gewordenen Glühbirnen, ein begehrtes Objekt auf dem Schwarzen Markt. So wurde im Januar 1947 ein Postbeamter von einem Rangierzug überfahren, als er im Dunkeln Kohlen hatte aufsammeln wollen. Zehn Jahre sollte es dauern, bis auf den Gepäckbahnsteigen erstmals Leuchtstoffröhren für den “problemlosen Nachtbetrieb” installiert wurden, wie eine Chronik des Postamtes 4 vermerkt.

Doch die Zeit der “Katakomben” ging unweigerlich zu Ende. 1979 war Schluss. Heute läuft der Postbetrieb in den lichten und luftigen Räumen des “Brieffrachtzentrums” im westlichen Gutleut, mit günstiger Anbindung an Autobahnen und Flughafen. Und im Hauptbahnhof bohren sich weiß lackierte Stahlträger durch die “Katakomben”, Behelfskonstruktionen für die Sanierung des Bahnhofsdaches. Die “Schlunz” gibt es nicht mehr. Das Haus darüber wurde abgerissen und Platz gemacht für moderne Wohnbauten und Büros.

 

Dieser Beitrag wurde unter Blick veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.