1816 Kälte, Hunger, Not und Chaos in Frankfurt und Europa

Abendstimmung von Turner

Abendstimmung von Turner

 

Es war soweit, der berühmte Sack Reis war umgefallen. Nicht in China sondern in Indonesien. Der Vulkan Tambora brach 1815 auf der indonesischen Insel Sumbawa aus. Mehr als 120.000 Menschen starben dort. Tausende Tonnen Staub und Gestein wurde in die Atmosphäre geschleudert und verdunkelten den Himmel auch in ganz Europa, Amerika und natürlich auch Asien.

 

Diese gewaltige Katastrophe wurde damals natürlich nicht wahrgenommen in Europa, man hatte keine Erklärungen für die kommenden kalten und langen Winter, Regensommer und Hungersnöte.

Auch Johann Wolfgang von Goethe hatte keine Ahnung was da vor sich ging. Seine Frau Christine verstarb am 6. Juni 1816 in Weimar. Der Sommer vor 200 Jahren ist kein normaler Sommer. In ganz Europa regnet es ohne Unterlass. In seinem Tagebuch schreibt Goethe von “sehr kalter Luft”, vom “schrecklich durchwässerten Zustand des Gartens”,  von der höchst unerfreulichen, lästigen und schädlichen Witterung” und einem Sommer, der ihn “mehr niederhält als aufrichtet”. Niedergeschlagen versucht er sich durch einen Kuraufenthalt dem “fürchterlichen Wetter”  zu entziehen, aber auch im im kursächsischen Schwefelbad macht “diese Witterung den Aufenthalt zu einer leidigen Angelegenheit”.

„Kinder haben im Gras geweidet“

Im Juli schneite es in der Schweiz bis in die Täler hinein. Der Rhein und andere Flüsse traten zur Unzeit über die Ufer. Im kanadischen Quebec maß man mitten im Sommer 30 Zentimeter Schnee. Und weiter im Süden, in den USA, ruinierten Nachtfröste die Ernte. Die Leute verzehrten „die unnatürlichsten, oft ekelhaftesten Sachen, um ihren Heißhunger zu stillen“, berichtet ein Zeitgenosse.

Vor allem in Süddeutschland, wo seit 20 Jahren französische und alliierte Heere durchgezogen waren und das von Napoleon ausgebeutet worden war, waren die Folgen dramatisch. Kaum war nach der Schlacht bei Waterloo 1815 Frieden eingekehrt, ruinierten Nässe und Kälte die Ernten. Im Jahr darauf war der Getreidepreis zweieinhalb- bis dreimal so hoch wie 1815. In der Schweiz, heißt es, „haben die Kinder oft im Gras geweidet wie die Schafe“. Selbst der Zar im fernen St. Petersburg war über das Elend derart entsetzt, dass er Getreidelieferungen befahl.

Denn das war das Erstaunliche am Sommer 1816 und denen, die ihm folgten: Im Gegensatz zu unseren Tagen hielten sich die Klimakapriolen im Bereich des Kontinentalklimas, also in Polen, Russland oder dem östlichen Skandinavien, in Grenzen, während sie in Zonen, die von atlantischen Winden geprägt werden, dramatische Folgen zeitigten.

Erst 100 Jahre später legte der amerikanische Meteorologe William J. Humphreys eine Erklärung vor, die sich durchsetzte: Im April 1815 war auf der indonesischen Insel Sumbawa der Vulkan Tambora ausgebrochen. Mit der Stärke sieben auf dem Vulkanexplosivitätsindex gilt er als stärkster Vulkanausbruch seit 22.500 Jahren.

Der Himmel verdunkelte sich durch endlose Regenwolken

In Europa war es nicht der Schnee, der den Menschen zusetzte. Vielmehr verdunkelte sich der Himmel im Sommer 1816 durch endlose Regenwolken. Diese reichten von Skandinavien über Deutschland und die Schweiz bis nach Spanien. Beispiellose Überschwemmungen spülten Weinberge und Getreidefelder weg.

In praktisch allen Regionen des deutschen Sprachraumes kommt es zu schlimmen Missernten. Historiker sehen in den Jahren 1816 und 1817 die letzte wirklich gravierende Hungersnot in Europa, die schreckliche Hungerkatastrophe in Irland 30 Jahre später einmal ausgenommen.
Die Preise steigen binnen Monaten um das Drei- bis Vierfache

Getreidewucher in Bingen

Getreidewucher in Bingen

Die fatalen Ernteausfälle treiben natürlich die Preise in die Höhe. Alles, wirklich alles – Brot, Fleisch und auch Wein – wird im Jahr 1816 auf 1817 innerhalb von wenigen Monaten um das drei- bis vierfache teurer. Es ist eine Zeit des Schreckens: Arbeitslose und Krüppel ziehen durch die Gegend und betteln oder stehlen sich das Nötigste zusammen.

Es geht in diesem bitteren Jahr wirklich ans Eingemachte: Verzweifelt schlachten die hungernden Menschen Pferde, Katzen und Hunde, ja sie braten Ratten und lassen auch Aas nicht liegen. Die Wälder werden zu gedeckten Tischen der Not: Die Menschen sammeln Gras, Klee, Moos und Wurzeln, sie verkochen Brennnesseln und Vogelbeeren zu Gemüse.

Es gibt in dieser Zeit der Not aber auch eine Menge Solidarität. So gründen in einigen deutschen Städten wie etwa Düsseldorf, Elberfeld und Frankfurt reiche Bürger sogenannte Kornvereine. Diese importieren Getreide und stellen so die Grundversorgung der Bevölkerung mit Brot sicher.

Im Herbst 1816 gab es dann gewaltige Unruhen in Deutschland, natürlich auch in Frankfurt. Der Mob bezeichnete die Juden als “Kornjuden” und beschuldigte diese durch den Handel das Korn besonders zu verteuern. Sie wurden als Wucherer bezeichnet.  Im August  1819 kam es dann in Frankfurt zu den sogenannten “Hepp-Hepp-Krawallen”.

Eine schreckliche Zeit war für Frankfurt, Deutschland und ganz Europa angebrochen. Man sagt, heute könnte das nicht passieren da die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln in Flugzeugen geschehen könnte. Ich habe da meine berechtigten Zweifel. Vor wenigen Jahren brach ein Vulkan mit unaussprechlichem Namen auf Island aus und legte den Flugverkehr für mehrere Wochen lahm.

Eyjafjallajökull

2010 auf Island

2010 auf Island

Auch für Goethe bedeuten die Krisenjahre eine Zäsur. Nach dem Tod seiner geliebten Frau zieht es sich mehr oder weniger aus dem gesellschaftlichen Leben in Weimar zurück. Ständig hat er nach diesen nassen Monaten mehr und mehr mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Husten, Schnupfen, rheumatische Beschwerden und Gischt machen ihm zu schaffen. Dass dafür der ferne Vulkan verantwortlich war, davon hatte er keine Ahnung.

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